Wie am Tag zuvor versprochen, kam Frau Pastorin Stellmacher um Therese zu Hause zu besuchen. Auch Luise, eine gute Bekannte, hatte sich zu einem Krankenbesuch bei ihr eingefunden. Während die drei gemeinsam eine Tasse Kaffee tranken, kam das Thema Kinder zur Sprache.
„Aber es gibt doch jetzt wieder mehr Kinder in unserem Ort. Ich hörte, dass unser Kindergarten in Langlingen wieder ausgelastet ist.“
„Ja, das ist wahr“, stellte die Pastorin fest. „Trotzdem haben wir dieses Jahr nicht einen einzigen Hauptkonfirmanden. Können Sie sich das vorstellen?“
„Das habe ich auch schon gehört.“ Luise nickte zustimmend. „Aber was wird denn dann eigentlich aus dem Krippenspiel am Heiligabend? Es war doch immer Aufgabe der Jugendlichen, die im Jahr darauf konfirmiert werden, das Krippenspiel zu gestalten.“
„Das größte Problem ist, dass wir nicht darauf geachtet haben, dass es aus der Bewerbung rauskommt. Es steht jetzt wie jedes Jahr im Gemeindebrief und im Veranstaltungskalender.“ Frau Stellmacher war das Ganze sichtlich peinlich.
Therese fragte entsetzt: „Fällt es jetzt aus? Das ist doch immer so schön. Also für mich ist das eine traditionelle Geschichte.“ Sie geriet ins Schwärmen: „Wenn ich mir das Spiel anschaue, da draußen auf dem Hof von Wieckenbergs, und wenn es dann noch anfängt zu schneien - das ist so eine schöne Stimmung. Es versetzt mich immer ein wenig in meine Kindheit zurück. Damals als Weihnachten noch so aufregend war, dass wir Nächte vorher nicht hatten schlafen können. Obwohl – damals gab es noch kein Krippenspiel unter freiem Himmel. Früher ging es in die Kirche und dort wurde die Geschichte von Christi Geburt aus der Bibel gelesen. Wie begann das eigentlich, dass es draußen aufgeführt wurde?“
„So genau weiß ich das nicht“, antwortete Frau Stellmacher. „Als ich nach Langlingen kam, um meine Stelle anzutreten, da gab es das schon einige Jahre.“
„Also, das kann ich Ihnen erzählen.“ Luise beugte sich nach vorn und stellte ihre Tasse ab. „Alles begann damit, dass die Kirche renoviert werden musste. Es hatte viel länger gedauert als geplant und schnell war absehbar, dass die Arbeiten nicht rechtzeitig zu Weihnachten fertig werden würden. Hochzeiten und Taufen wurden während dieser Zeit in die Kirche nach Bröckel verlegt. Aber auf den Gottesdienst am Heiligen Abend wollten die Gemeindemitglieder dann doch nicht verzichten. Also begann man, ihn nach draußen zu verlegen. Die Konfirmanden erhielten die Aufgabe, das Krippenspiel in Form eines kleinen Theaterstücks darzubringen. Dass dieser Ablauf über die Jahre so weitergeführt wurde, war damals noch nicht geplant. Wenn es in diesem Jahr zum ersten Mal nach fünfundzwanzig Jahren nicht stattfinden wird, ist das sehr schade.“
„Aber das wird nichts. Dann gehen wir eben wieder in die Kirche. Und ich lese die Geschichte aus dem Lukasevangelium.“ Frau Stellmacher hatte sich im Gegensatz zu Luise anscheinend bereits mit der Tatsache abgefunden.
„Aber könnten nicht die Vorkonfirmanden …? Ich meine, das sind doch wieder einige.“ Luise suchte nach einer Möglichkeit.
„Und im nächsten Jahr sollen sie noch mal? Die werden mir was husten. Ganz davon abgesehen, dass sie gerade mit dem Konfaunterricht angefangen haben. Die sind noch gar nicht richtig angekommen.“ Frau Pastor schüttelte den Kopf. „Nein. Das wäre jetzt auch zu kurzfristig. Das kann ich ihnen nicht zumuten. Und mir auch nicht!“
„Aber“, warf Therese nachdenklich ein. „Könnte das nicht die Theatertruppe übernehmen? Wenigstens ausnahmsweise?“
„Therese, die würde ich gar nicht fragen wollen. Die haben so viel mit ihrem eigenen Stück zu tun, das sie immer im Dezember aufführen.“ Luise kräuselte die Stirn. „Eigentlich“, fügte sie etwas ärgerlich hinzu, „eigentlich müssten die Erwachsenen das Stück aufführen. Schließlich sind es ja die Alten, die daran schuld sind, dass es so wenig Kinder gibt und wir in diesem Jahr keinen einzigen Hauptkonfirmanden haben.“
„Also, ich nicht, ich bin raus. Ich habe drei Kinder. Das sollte reichen.“ Therese lehnte sich erleichtert zurück.
„Ich habe auch drei.“
„Das ist ja ein bisschen wie freikaufen“, mahnte Frau Pastor Stellmacher.
„Stimmt! Wenn jeder so denkt, dann tut sich hier gar nichts. Also müssen wir wohl selber ran.“ Luise kramte in ihrer Tasche und holte einen Zettel und Kugelschreiber hervor.
„Was hast du vor?“ Therese beobachtete sie erstaunt.
„Lass uns doch mal überlegen, wen wir fragen können, ob er mitmacht.“ Luise war in ihrem Element. Endlich gab es wieder etwas zu planen.
„Wie?“ Therese und Frau Pastor schauten sie erstaunt an.
„Na ja, ich dachte, wir wären uns einig, dass wir das Krippenspiel selber inszenieren. Wir brauchen nur noch ein paar Freiwillige, die mitmachen.“
„Ich kann doch gar nicht.“ Thereses Stimme klang entsetzt. Sie zeigte auf ihr Gipsbein.
Frau Stellmacher sagte: „Also ich habe an den Feiertagen sowieso genug zu tun. Da kann ich nicht auch noch ein Krippenspiel einstudieren.“
Luise ließ sich nicht abbringen: „Aber sie haben doch sicherlich den Text für ein Stück parat. Das könnten Sie uns zur Verfügung stellen, nicht? Und du Therese übernimmst erst einmal das Telefonieren. Das kannst du im Sitzen erledigen.“
„Mit wem sollte ich telefonieren?“
„Du könntest doch Freunde und Bekannte anrufen und fragen, ob sie mitmachen wollen.“
„Iiiich?“ Therese war entsetzt. „Ich weiß gar nicht, wen ich da anrufen sollte. Und was soll ich denen erzählen? Dass wir ein Krippenspiel machen wollen? Die lachen mich doch aus. Ich höre sie schon: Krippenspiel, das ist was für Kinder. - Nein, das lass mal.“
„Eigentlich finde ich die Idee gar nicht schlecht. Nein- im Gegenteil, ich finde sie sogar sehr gut. Und wenn Sie genügend Mitspieler finden, dann würde ich mir auch die Zeit nehmen, das Vorhaben zu unterstützen.“ Die Pastorin lächelte sie aufmunternd an.
„Meinen Sie wirklich? Machen wir uns damit nicht lächerlich?“ Therese blickte zweifelnd auf Frau Stellmacher.
„Das glaube ich nicht. Und – wie gesagt – es wäre auch schade, wenn in diesem Jahr kein Krippenspiel aufgeführt werden würde.“
„Super, mit Ihnen sind wir schon drei. Und ich denke, wir können noch Hannes, Klaus, Sibylle und Hermann fragen. Das solltest du als Erstes tun, Therese.“ Luise reagierte euphorisch auf Frau Stellmachers Zustimmung.
„Nein.“ Fröhlich und bestimmt unterbrach Frau Stellmacher Luise. „Wenn wir schon so ein großes Projekt zusammen machen, dann müssen wir als erstes beschließen, dass wir uns ab sofort duzen. Ich heiße Charlotte“, sagte sie, hielt ihre Tasse zum Anstoßen hoch und fuhr fort: „Alle sagen Lotte zu mir.“
Luise hob ebenfalls ihre Tasse. Therese seufzte bei dem Gedanken an die vor ihr liegende Aufgabe und stieß schließlich mit beiden an.